Eisprinzessin im Dornröschenschlaf

Die Küste der baltischen See ist eher erahnbar als zu sehen. Wo ist Wald.. wo Meer oder schimmert gar gefrorenes Wasser im Silberschein des fast vollen Mondes? Die Dämmerung ist der Nacht gewichen. Nur ein feiner Feuerstreifen ziert noch den Horizont. Der A320 surrt die Tragflächen aus. Das Zeichen, dass die Landung kurz bevorsteht. 


Ich gebe es frei und fröhlich zu. Weshalb Helsinki? Jetzt im Winter? 5 Tage? Nun.... die Auswahl an Meilentickets der Staralliance war - wie immer - nicht berauschend, und wer möchte schon die mühsam gesammelten Punkte, bevor sie dem Verfall zugeführt werden, für einen lapidaren Kurzstreckenflug im Wert von gefühlten CHF 150.-- hingeben? So kam Helsinki zum Handkuss. Ja.... die Stadt, die ich immer verschmäht hatte, und nun sollten wir uns erst noch bei frostigen -10 Grad anfreunden? Da herrscht doch die nüchterne Kühlheit. Sicher... einige achitektonische Trouvaillen, die werden mich beeindrucken aber sonst mache ich mich für schnörkellose Atmosphäre bereit.


Der Copilot setzt zu einer engen Rechtskurve an, die Szenerie wechselt. Ich bin unverhofft entzückt. Wie soll ich den Anblick aus nächtlicher Höhe beschreiben:

Ein faszinierendes Gewebe aus Kupferdraht und Diamanten liegt unter mir. Helsinki aus der Vogelperspektive! Der Schnee reflektiert die Lichter... ja ... so wird es sein...intensivstes Leuchten in warmem Orange und Funkelweiss. Flugzeug bleib stehen! Ich möchte noch lange staunen.

Butterweich beendet der 1. Offizier seine Aufgabe; das Flughafengebäude kommt in Sicht und meine Begeisterung flaut wieder auf Normalzustand ab: 

"E voilà!" Funktionalität pur. Genau so hatte ich mir doch das vorgestellt,  und so wird es weitergehen.

Die Taxifahrerin gibt meinem Vorurteil mühelosen Auftrieb. Was hatte ich über die Finnen gelesen: Zurückhaltende Mentalität! Genau.  Im Auto herrscht Stockfischfeeling. In der Regel plaudere ich gerne auf der Fahrt,  um so den ersten Puls des Unbekannten zu fühlen. Aber verbale Annäherung ist hier klar unerwünscht. Dafür fährt sie flüssig und sicher. Das Hotel "Haven" scheint ihr auch präsent. So weit so gut. 

Haven
Haven

An der Rezeption erwartet uns ganz antifinnisch die schwarzhaarige "Kleopatra". Mit distanzierter Erhabenheit mustern ihre mit schwungvollem Kajalstrich unterlegten Katzenaugen die Zimmerliste. " Sie haben um ein Zimmer mit Aussicht angefragt? " Ihr Blick hebt sich kurz, um mein bestätigendes Nicken abzufangen. 

"Wir haben ein sehr schönes Zimmer für Sie. Allerdings ohne Hafensicht." Im Ergebnis sah das so aus, dass sie uns im hintersten Winkel mit Zero-Sicht in einen Innenhof versenkte. Das Zimmer mit eigenwilliger Formgebung, ein Schlauch 8x3m mit 3 Meter hohen Decken; aber die Vorhänge sind die intelligentesten, die mir je unterkamen. Man muss sie nur kurz in die gewünschte Richtung ziehen, schon rauschen sie selbständig ab. 

Schach in der Bar
Schach in der Bar
Was darf es denn sein?
Was darf es denn sein?

Der Abend findet sein Ende in der äusserst geschmackvollen Bar. Überhaupt hatte es mir die Materialisierung der Räume schon im Internet angetan, und die Realität bestätigt dies. Schade ist allerdings, dass das Hotel trotz seiner absoluten Toplage, wenig von der Aussicht auf den Hafen und die Stadt bietet. Die Bar ist hinten hinausgerichtet; 


Frühstücksraum mit Stil
Frühstücksraum mit Stil

im sehr ansprechenden Frühstücksraum kann man nur von einigen kleinen Fenstern aus etwas von der Sicht erhaschen. Aber wenn man eines der tollen Schlafzimmer der oberen Etagen kapern könnte, sähe die Gesamtbeurteilung wohl besser aus.

Palais des Staatspräsidenten
Palais des Staatspräsidenten

Am andern Morgen bin ich nun gespannt, was das Tageslicht an Stadt enthüllen würde. Nach wenigen Metern stehe ich an der Esplanade und bin wirklich äusserst angetan. Nichts von modern und nüchtern. Eine Prachtsallee, die direkt in den Hafen mündet, gesäumt von klassizistischen Bauten. Grosszügig...aber keinesfalls protzig... luftig. Und die Stimmung:  Fern jeder Hektik... unglaublich ruhig... wenig Fussgänger und noch rarer die Autos und es ist Freitag. Ich mutiere zum permanenten Rotgänger an den Ampeln... es kommt einfach nichts. 

Nicht Venedig
Nicht Venedig

Bevor ich in den Stadtrundfahrtbus steige noch schnell auf die Läden geschielt. 

Auch hier Überraschung: Zwar ist an dieser Topstrasse sehr vereinzelt die eine oder andere Marke vertreten, aber es kommt keinesfalls diese unangenehme Abgehobenheit herüber, die sich an manchen Edeldesignermeilen breitmacht. Hier hat auch noch das Geschäft mit den lokalen Strickwaren seinen Platz, kleinere Noname-Läden mit Glaswaren und vorallem auch Cafées und Bistros. Wouww wie wird das im Sommer hier aussehen. Bunt und lebendig.

Bistro Presto an der Esplanade
Bistro Presto an der Esplanade

Die Stadtrundfahrt ist eine mit den roten Bussen, also von der Stange, aber informativ und unterhaltsam.

Natürlich wird eine tüchtige Portion Nationalstolz gepflegt. 600 Jahre lange war man unter schwedischem  Regime und ab 1809 - 1917 Grossfürstentum Russlands. Beide Kulturen sind hier auf Schritt und Tritt präsent. Obwohl heute nur noch 6% aller Finnen Schwedisch als Muttersprache haben, ist es offizielle 2. Landessprache,  und somit sind auch alle Beschilderungen zusätzlich in Schwedisch gehalten. Die Russen wiederum haben starke architektonische Einflüsse hinterlassen. Jugendstil an allen Ecken und Enden, und die othodoxe Kathedrale am Hafen versetzt einem unvermittelt in das Reich des Ostens. 

Der Bus schwenkt auf den Senatsplatz ein, wo sich weiss und grünbekuppelt der Dom erhebt. Ein monumentaler Anblick und gerade der richtige Moment, um uns auf der Führung  zur Kenntnis zu geben, dass es als Relikt aus der Russenzeit noch immer rund 150 Adelsfamilien in Finnland gibt... ja wer hätte das gedacht?


Weiter geht die Fahrt dem Hafen entlang. Die baltische See trägt einen Eisteppich... da und dort tummeln sich Spaziergänger. Weiter draussen die vorgelagerten Inselchen, auf denen im Sommer beliebte Sommerwirtschaften betrieben werden. "Das wäre eine Reise wert", denke ich.

Aber jetzt ist es draussen kalt.. sehr kalt, was den Speaker offenbar veranlasst uns zwei erwärmende Weltrekorde der Finnen zu eröffnen. Sie sind die fleissigsten Kaffeetrinker auf dem Globus und die eifrigsten Saunierer. Jedes Haus verfüge über eine Sauna (in Mehrfamilienhäusern von den Bewohnern individuell reservierbar). Im Schnitt ergibt sich 1 Sauna pro 2,5 Einwohner.

Weltrekord. 

So échauffiert kann ich mich zum Schluss auch noch dem Anblick der modernen Architektur zuwenden

Wohnblock am Hafen
Wohnblock am Hafen

Natürlich die Finnlandiahalle, 

das neue Haus der Musik, 

die Kamppikapelle

Kamppikapelle
Kamppikapelle

Das Museum of Modern Art Kiasma

und mein Liebling: Die Tempelkirche, die in den harten Granit hineingehauen wurde und eine mystische Atmosphäre zelebriert.


Die Fahrt durch die Weltstadt im Handtaschenformat endet am Ausgangspunkt. Ein Hüngerchen meldet sich: Wohin? 

Zu Ekberg, der Traditionsstücklibeiz in 4. Generation mit der Spezialität "Napoleon" (die ich als Crèmeschnitte betiteln würde) oder ins Bistro Kämp? 

Das zweite liegt näher und beschert mir eine der besten Sole Meunière meines Lebens für 27€. Jugenstilambiente mit Plüschsofa und Kristalleuchter inbegriffen.

Frisch gestärkt noch eine Runde zu "Stockman". Sieht aus wie Harrods in London innen aber eher Corte Inglés. Shop in Shop. Alles da aber nichts Besonderes. 


Nach etwas Rekreation im Hotelzimmer geht es wieder auf Entdeckungstour. Der Abend ist zügig hereingebrochen. Am Hafen ist es noch ruhiger als sonst. Die beiden grossen Fähren nach Tallin und Stockholm haben bereits abgelegt. 

Ein zackiger Wind verlangt nach Stirnband. Das gefrorene Meer trägt Glanz aus milden Schiefergrau... die Strassenlaternen schicken Lichttropfen auf das Eis. Die Stadt: Eine Eisprinzessin im Dornröschenschlaf. Ab und zu wechseln arbeitslose Ampeln zwischen grün und rot. Es ruht.

Doch dort aus dem alten Backsteingebäude am Hafen kommen öfters Personen. Neugier!

Die schwere Eingangstüre knarrt... und ..... schwelgerische Gerüche umfangen mich. 

Herrlich: Ein Foodmarket. Kleine Kabäuschen laden an den Ständen zu einem umkomplizierten Essen oder Trinken ein.

Ein Eldorado für Häppchenjäger. Ein bisschen Rentierschinken hier... etwas finnischer Käse dort oder doch eine der 10 Sorten Lachs zum Mitnehmen? 

Dieser Augenschmaus macht Lust auf mehr.... ich habe im "Nokka" reserviert.

Ein Lokal für Vintageliebhaber. Ein altes Lagerhaus an der Mole.

Die Decken 5 Meter hoch... schummrig...fast nur Kerzenlicht das die Flammen auf den alten warmroten Backsteinwänden tanzen lässt. 

Das Personal ist eifrig-enthusiastisch. Die Küche bio&finnisch. Eine Rentierwade in Rotweinsauce ist meine Wahl. Für mich das erste Ren-getier ever. Es hat  etwas strenges in Geschmack und Konsistenz. 

Ich bin versucht, das Medaillon  "archaischen Brasato" zu nennen. Wer dieses Abenteuer nicht eingehen möchte: Ich sehe auf den nachbarlichen Tellern auch verlockende Fischkreationen. Ein Besuch dieses Restaurants ist auf jeden Fall ein Erlebnis.

Blick nach draussen
Blick nach draussen

Für weitere Unternehmungen statte ich andertags dem Tourismusbüro einen Besuch ab. Alfonso macht begeistert Vorschläge und kommt noch mehr in Fahrt, als er von Englisch auf Italienisch wechseln darf. Er kommt aus Palermo. Was für ein Gegensatz. Deshalb ist ihm mein Interesse am kleinen Städtchen Porvoo wahrscheinlich zu wenig heissblütig. Nein Tampere, da laufe was! Schliesslich entlocke ich ihm aber doch noch die ÖV-Variante nach Porvoo. Auf geht es zum Busbahnhof Kamppi unweit des Bahnhofs.

Das ist doch die Lösung! Ein unterirdischer Terminal. Mit einer Rolltreppe gelangt man in einen breiten Glastunnel. Auf der andern Seite der Glaswände warten aufgereiht die Reisecars. Durch eine Schleuse wird man wenige Minuten vor Abfahrt durchgelassen. Ich studiere die Destinationen und: "Daran habe ich gar nicht gedacht: St. Petersburg in 8 Stunden und das für 18€. Einfach unglaublich."

Mein Bus Nr. 863 macht sich auf den Weg. Wieder ans Tageslicht und vorbei an der Oper, die eigentlich eher einem Atommeiler gleicht, und dann in die Aussenbezirke. 

Oper
Oper

Überall züngelt das Meer, weissgefroren ans Land. Das lohfarbene Schilf stirzelt aus der Schneedecke. Die Federpinsel zittern leicht im Wind. 


Das Publikum im Car ist einheimisch. Mit dicken Wollmützen und Schals warten die Leute an den

diversen Stopps im Nirgendwo. 

Tannen... Tannen ...Tannen... dazwischen  vereinzelt kleine Holzhäuser. 

Nach einer Stunde ist Pervoo erreicht. Ja... Alfonso hatte recht. Das kleine Städtchen mummelt sich noch in eine Schneelandschaft. Wie im Kinderbuch. 


Häuschen in allen Farben. Pittoresk nach Suomi-Art. Im Sommer ist es hier voll von Touristen aber jetzt schliefere ich recht einsam mit ein paar andern Neugierigen auf den vereissten Strässchen umher. 

Das Restaurant vis à vis der Kirche bietet sich später für einen Imbiss an. Nett eingerichtet. Die Kartoffeltrüffelsuppe ein Tipp. 

Serviert wird ein Teller mit Kartoffeln und Lauchspaghettis; erst nachher wird die eigentliche Suppe vor dem Gast in den Teller gegossen und die genannten Ingredienzien werden nach dem Stauseeprinzip "ertränkt." Ich schmunzle. Der Trüffel duftet sich an meine Nase. Urig und delikat in einem.



Der dritte Tag steht im Zeichen des Wandels von der Eisprinzessin zum Vorfrühlingskind. Blauer als blau steht der Himmel über Helsinki.

Temperatur über Null und was für eine Änderung. Mehr Menschen, mehr Autos, Vögel zwitschern. Über Nacht hat sich manche Scholle verflüssigt und milde Wellen lecken nun unentwegt an der Eisdecke. Die Platte durchzieht sich mit Bruchlinien. Einige Seemöven retten sich noch auf tagfähige Stücke. Ein Tag, um nochmals bei bester Laune, die Stadt abzuwandern (am Schluss werden es in 4 Tagen 45'000 Schritte sein; das erste Mal liebe ich meine Schrittzählerapp!).

Zeit genug, um noch da und dort zu geniessen und staunen:


Der Picknickplatz auf dem Wasser, ein Ort, wo die Einwohner im Frühling gerne ihre Teppiche waschen.

10'000 öffentliche Bootsplätze und bunte Fahrräder.

Ein Toast "Skagen" (ein leckerer Schrimpssalat) und traditionelle Lachssuppe.

Das Restaurant, das früher eine Bankhalle war 

und auch über eine edelschummrige Champagnerbar verfügt. 


Das Personal ist recht

"aufgetaut" und freut sich auf Konversation über Land, Leben und Essen.

Der Likör aus Gin. Eine neue Erfahrung in der Welt der Spirituosen. 

Schaufensterhumor zum Valentinstag.

Die Schlösserbrücke nahe der russischen Kathedrale für gebundene Herzen.

Unwiderstehliche Werbung für Karotten

und als oberstes Kuriosum:

Die elekronische Umkleidekabine.

Nein, keine Massnahme gegen Diebstahl, sondern eine kundenfreundliche Erfindung. Man steht ziemlich dehabillée in der Garderobe und ohh herrje... passt nicht. Jetzt wieder anziehen und draussen ein neues Teil suchen? Keine Lust. Das Problem ist elegant gelöst: Man hält das Etikett an den Scanner des Screens und schon listet er auf, ob die gewünschte Grösse im Geschäft noch an Lager ist oder allenfalls bestellt werden könnte. Im Notfall gibt es noch den Knopf: "Bitte Bedienung in die Kabine." Also wirklich praktisch. 

Nun Helsinki.. ich muss zurück. Entschuldige, dass ich Dich so geringschätzte. Du hast meine Sympathie gewonnen. 

Noch ein letzter Blick  aus der Luft auf die Wälder und Seenlandschaft. 

Du bist auch im Winter eine Reise wert!

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