„Dem verbotenen Blick“ begegne ich - es kann kein Zufall sein - erst als ich EVA kennenlerne. Das ist aber erst 4 Stunden später. Mein Avion zieht nämlich gerade eine elegante Kurve. Die Wolkendecke reisst auf. Der rote Flügeltipp kontrastiert heiter im quirligen Himmelsspiel.
Daheim regnet es heftig und für meine Destination wurde nichts Besseres vorausgesagt. Umsomehr frohlocke ich. Da werde ich mich wohl unverzüglich auf die Socken machen und die Altstadt von Luxembourg erkunden. Denn wer weiss, wie lange Petrus noch solche Flauschwolken pinseln mag.
Während der Fahrt ins Hotel äuge ich gespannt rechts und links. Hier ist Geld. Überall tolle Architektur. Ich habe leider nur magere Kenntnisse über den fürstlichen Zwergstaat. Mein erster, lang ersehnter Besuch hier. Im Epizentrum Europas. Aber 2 Dinge weiss ich schon. Finanzplatz und Bilangue. Deutsch/ Französisch. Bereits im Entrée des Hotels „Place d‘ Armes“, das wirklich eine hervorragende Lage vorweisen kann, zerfällt mein rudimentäres Vorwissen zu linguistischer Asche. „Guten Tag, ich habe ein Zimmer reserviert!“ Der gut 190 grosse, etwas steife Conçierge heisst mich zu meiner Verwunderung nicht in Deutsch... und auch nicht in Französisch, sondern in Englisch willkommen. Ich bleibe hart: „Ist das Zimmer schon bezugsbereit?“ Mein Gastgeber bleibt beim Angelsächsischen. Er macht sich daran, das Schlüsselkärtchen vorzubereiten und diskutiert deswegen mit seiner Arbeitskollegin. Aha.. Holländisch? Na dann kann eben zufällig gerade er kein Deutsch oder Französisch. Wobei... irgendwie... irgendwie klang es doch nicht Dutch. Detail... keine Zeit... ich will los.
Die Stadt präsentiert sich übersichtlich. Ville haute, wo ich wohne und unten entlang des Flüsschens: Ville basse. Erinnerungen an meine Unistadt Freiburg brechen auf und das Bedürfnis nach bergab. Vorerst geniesse ich aber ausgiebig die Aussicht, welche die trutzigen Befestigungsmauern bieten. Einen Panoramapunkt, die Corniche, nennen die Locals mit Stolz, den „schönsten Balkon der Welt“.
Ich lehne mich an das Geländer, meine Augen vergnügen sich in den Gartenterrässchen. Der Frühling zeigt sich schüchtern rosa. Lass Dich einfangen. Für einen Moment... endlich Frühling. Schon in zwei Wochen wird die Sicht noch lieblicher sein.
Die Weide neben dem Münster wird ihre eleganten zartestgrünen Triebe wie einen Organzavorhang in das Wasser fallen lassen. Der wilde Wein wieder die kampferprobten Mauern hochklettern. Japanische Kirschbäume ihre Pink-Blüten streuen. Eine Oase für Romantik und Fantasie.
In drei grossen Serpentinen führt mich die Kopfsteinpflasterstrasse gemütlich zum Talboden. Ich sehe bereits die Brücke, aber nun da: Eine Schiefertafel auf einem Ständer auf dem Trottoir: „Joyeuse Pâgues“, bunte Kreide! Sonst nichts als Unauffälligkeit. Blassgelb-gealterte Fassade, ein zurechtgebogenes beiges Wirtshausschild: „Café d‘artisan“!
Es ist wohl dieser Name. Er zieht, er lockt! Zögernd... ich drücke die Türfalle. Und finde mich in einer andern Welt. Dunkel plus Rot; die Wände, Decken komplett mit alten Theater-Austellungsplakaten beklebt. Eine ganz besondere Stimmung kriecht in mir hoch. Ein spezieller Ort.
Man möchte verweilen. Ich setzte mich auf einen der gut 100 Jahre alten Bänke, die in einem Bahnhof gestanden haben könnten. „Thé noir, s‘il vous-plaît.“ Ich warte...und studiere die Plakate. Ich sitze genau gegenüber...Der verbotene Blick. Es war eine Ausstellung über Erotik in der Literatur der letzten Jahrhunderte. Inzwischen dampft das Wasser vor mir. Eva hat ihn gebracht, den Tee. Ihr offener Blick motiviert zum Gespräch.
Das Lokal wird schon in dritter Generation geführt. Der jetzige Inhaber habe das Intérieur von seiner Mutter übernommen und die Idee der Verkleidung der Wände gehabt. Die einzelnen Plakate hätten also nicht besonderen Bezug zu bestimmten Künstlern. Mit einer Ausnahme: Die alte Dame auf den gelbtonigen Bild. Eine hervorragende Pianistin.... habe hier oft gespielt und sie sei die beste Freundin von Edith Piaff gewesen.
Noch heute werde jeden Mittwoch und Samstag live Klavier geboten. Die Stimmung sei unvergleichlich, eng. Viele Einheimische; es wird mitgesungen. Die Atmosphäre „En famille!“ Ich lausche... Eva ist schon schwärmerisch verklärt. Doch abrupt kehrt sie an den Thresen zurück. Ein elegant-lässiger Herr mit John-Lennon-Brille ist eingetreten. Es wird diskutiert. Der Propriétaire? Ich spitze meine Ohren. Französisch, Deutsch... oder ... ola... ist das nicht, die Sprache von der Rézeption? Als ich bezahle, spreche ich Eva darauf an. Ja ob ich denn das nicht wisse? „Wir sprechen einen eigenen Dialekt, den die Kinder zu Hause erlernen. Luxemburgisch. Lëtzeburgisch.
Eine Mischung aus deutschen, französischen und holländischen Termini. Er ist dritte Landessprache. schriftliche Gramatik gibt es allerdings nicht. Also sehr ähnlich zur Schweizer Situation. Übrigens gebe es noch eine heimliche Landessprache.16.5 % der Bevölkerung (Gesamtbevölkerung Luxembourgs: 600000) sind Portugiesen. Die Secondos sprechen zwar auch den Dialekt; aber die Heimatsprache bleibt wichtig.
Eva plant eine Reise nach Zürich und Luzern... wir schauen Händy-Fotos an. Der Abschied
herzlich. Kein Adieu; ein Au revoir ! Die Begegnung schwebt noch in mir nach oder der verbotene BLICK?
Ich schlendere durch die Unterstadt. Gelange zum Neumünster. Licht.... Gesang... ein Stuhl für mich. Eine Probe für das Osterkonzert. Die Solisten pflegen hohes Talent. Glockenhell durchhallt der Sopran das Kirchenschiff. Die Tenöre unterlegen ihn mit rauchigem Timbre und so steigert sich die gesangliche Symbiose zum Gloria das sich beschwingt in den Goldranken des Altars hochwindet. Der Dirigent schliesst die Augen. Unter seinem schwarzen Rollkragenpullover runden sich die Schultern so als trage er das finale mehrstimmige AMEN persönlich in das Auditorium. Hühnerhaut bis der letzte Ton bebend verklingt.
Draussen ist es still am Ufer. Und „sie“ passt mit ihrer Geschichte gerade perfekt in meine postkirchliche Gedanken.
Sie sei so schön gewesen wie die Morgenröte, erzählt die Sage. Hier am Gestade habe der Gründer der Stadt, Siegfried, sie getroffen und alsbald um ihre Hand angehalten.
Sie, „Melusina“, habe zugestimmt unter der Bedingung, dass sie täglich eine Stunde unbeobachtet in ihrem Zimmer verbringen dürfe. Eines Tages passierte Siegfried geade zu besagter Zeit ihre Gemächer und hörte seltsame Geräusche. Das Schlüsselloch wurde sein Komplize. Sie gab sich unverhüllt in ihrer ganzen Körperlichkeit und badete ausgelassen in einem Wasserbottich. Über den Rand der Wanne legte sich silberschuppenschillernd eine Schwanzflosse. Sie war entdeckt! Eine Meejungfrau. Die Observation durch ihren Gatten entging ihr nicht .... und so traf sie das Schicksal aller decouvrierten Nixen; sie musste von der Welt und versank vor 1050 Jahren mit herzzerreissendem Schrei in die Erdentiefe. Es geht die Weise, dass sie noch immer im Burgfelsen namens „Bock“ lebe und alle 7 Jahre kurz zu den Menschen aufsteige..... wann es gerade wieder soweit wäre, liess sich nicht ergründen.
Sie muss uns als anmutig Sitzende unter dem Salix genügen. Die Trauerweiden-
zweige hängen graziel als wären die aufknospenden
Blättchen feine Perlentränen geweint über ihr vermisstes irdisches Leben?
Gerne wäre ich noch um die Biegung der Alzette zur Quirinuskapelle spaziert. Aber die Dämmerung wird bald aufziehen. Zum Glück muss ich nicht den ganzen Weg hinauflaufen. Ich kann den kostenlosen Lift (Grund) nehmen. Über den Roosevelt Boulevard entlang komme ich noch rechtzeitig mit ca. 50 Chinesen zum besten Photopunkt um das schlossartige Bankmuseum aufs Bild zu bannen.
Die Nacht legt sich in die Gassen. Ein Hauch von Mittelalter. Und in den Auslagen Glanz und Glamour.
Unter historischem Moto empfängt mich auch der nächste Morgen.
Die Top UNESCO-Welterbe-Sehenswürdigkeit der Stadt wartet. Die Kasematte. Der Bockfelsen bildete schon Gründungsort. Siegried liess dort seine erste Burg bauen.
Der Ort wurde zum Objekt manch stategischer Begehrlichkeit. Preussen, Spanier, Holländer, Deutsche. Aber die Österreicher und die Franzosen schufen Beachtliches und befestigten die Stadt, die als „Gibraltar des Nordens“ benannt wurde.
Den Österreichern ist ein weitverzweigtes Labyrinth innerhalb des Bockfelsens und unter der Stadt zu verdanken. Die... Kasematte ... „Casma“...griechisch...vor Artilleriebeschuss geschützes Gewölbe.
Der Wort findet sich heute noch im Wort Kaserne. Von den Schiessscharten aus, bietet sich Aussicht von bester Optik auf die untere Stadtwälle und das Münster.
Und da geht es jetzt auch auf den Wenzelrundweg. Rauf und runter über die Festungsanlagen beidseitig des Wassers. Ein kurzweiliges Prommenieren von rund 5 Km. Erklärungstafeln erzählen vom König Wenzel, dem Faulen und den Bauten... (aber hier schien er ganz fleissig am Werk gewesen zu sein).
Gegen Mittag will Petrus nicht mehr in Blau aquarellieren. Er schickt sehr kühles Nass.
Zeit die kleinen Geheimnisse des Slow Foods zu suchen. Bei KK KAEMPFF-KOHLER liege ich da richtig. Ein Edelcomestible mit einigen Sitzplätzen.
Jedes Gewürz, sorgsam beschriftet, wäre eine Versuchung, die Olivenöle in formschönen Glasflaschen. Tausend Verlockungen von süss bis picant.
Ein Augenschmaus. Man nennt sich „Boutique Gastronomique“. Mir ist nach Warm. Im Nebengeschäft komme ich auf volle Kosten.
Nadine, die Botschafterin traditionellster Teekultur erwartet mich. Mariage Frères wurde 1854 in Paris gegründet. Da müsse ich unbedingt einmal im Quartiers Marais das Gründungshaus besuchen. Herrliche Patisserie, Brunches im Originalambiente mit einem Cassier im alten Schalterhäuschen... und naturellement Thé... Thé... Thé!!
Er schlummert in eleganten Dosen. Ich formuliere meine Vorlieben und Nadine öffnet Deckel um Deckel und fächelt mir opulente Düfte entgegen. Ich bin high! „Black Opéra“, „Étoile misterieuse“, „Love Story“,... und dann erst die Verpackung. Auch Raritäten aus Japan und dem Himalaya sind erhältlich. Der White Tea !
Wenn schon auf sehr hohem Niveau, dann doch bitte auch die Fortsetzung. Das Abendessen steht an und der Restaurantführer muss sich mein eifriges Durchblättern gefallen lassen. Und voilà . Es ist um mich geschehen.Natürlich wieder einmal ein Schloss... und auch noch mit Spitzenkoch.
Meistens gibt es neben dem Sternelokal auch noch eine modestere zweite Lokation. Nach dem Prinzip: Gleiche Küche
halber Preis. Im Schloss
Bourglinster zaubert René Mathieu an den Töpfen und sein Bistro ist noch nicht ausverkauft Er gilt als einer der begnadesten Köche des Landes.
Die Vorspeis heisst hier „Préludes“ und schmilzt als Rettichcarpaccio mit Erdbeeren auf der Zunge. Höchstklasse! Ein Fisch à la „catch of the day“ fehlt. Das heisst hier „poisson du moment“ und diesen Augenblick verzaubert er wirklich.
Das alles begleitet durch den kleinen Bruder des Château Lynches Bages „Echo de Lynches Bages“.
Wunderbar. Der Chef zeigt sich auch noch. Allerdings sieht er sich im Beschlag eines Paares genommen, das einen grösseren Anlass plant. Ich kann ihm nur ein: „formidable, Meistro“ zuwerfen; er lächelt unter seinem schwarzen Igel-Haarschnitt spitzbuebisch zurück.
Tag drei widmet sich dem Miselegebiet. Ja... so heissen die sanften Abhänge an der Mosel. Das Weingebiet. Die Rundfahrt beginnt zuerst politisch. Nein...wie konnte ich nur... „Schengen“... das war für mich immer belgisch. Aber so was von Fail... Schengen liegt am Dreiländereck Deutschland, Frankreich, Luxembourg. So kommt es, dass ich zum Europamuseum in Schengen gelange.
Ein kleiner Platz direkt am Ufer mit Säulen und Sternen, auf dem jedes Mitgliedland dargestellt ist. Die Schweiz mit Matterhorn, Kuh und Sackmesser.
Das Museum, ein Betonkubus. Ein Refreshment täte not, aber es gibt Gratiseintritt. Im Intérieur wird gleich einer Kommandozentrale eines Raumschiffes an diversen Bildschirmen die Geschichte und das Prinzip des Abkommens dargestellt. Sich der Grenzen zu entledigen. Der Vertrag wurde 1985 unter den Ländern Deutschland, Frankreich, Belgien, Luxembourg und Niederlande geschlossen. Die Unterzeichnung fand auf dem Schiff „Princess Marie Astrid“ auf der Mosel statt, genau da, wo sich die Grenzen der drei Länder treffen. Heute sind 26 Staaten dem Schengenraum angeschlossen. Nur kurz über die Brücke. Diese Freiheit. Diese Unbeschwertheit. Ein historischer Schritt.
Und dann der konträre Gedanke, was Grenzen alles für Leid generierten und immer noch......
Als Versinnbildlichung: Eine Skulptur aus Stacheldraht; Text:
„Sei still mein Schmerz; du musst nun leiser klagen“.
Zitat von Charles Beaudelaire.
Es ist Karfreitag. Und der Fahrer führt mich an einen weiteren Ort der Einkehr. Der amerikanische Soldatenfriedhof. Die Gedämpftheit ergreift mich. Ich habe es in den Geschichtsbüchern gelesen... X-mal am Fernsehen zur Kenntnis genommen, von den Grosseltern erzählt bekommen. Aber nun stehe ich da. Vor mir das Meer der namenlosen weissen Kreuze.
Jetzt ist es plötzlich ganz real. Jedes Kreuz ein Schicksal, eine zerstörte Zukunft, eine begrabene Hoffnung.
Der Turm des Denkmals entlässt dunkle Glockenschläge. Sie schieben sich schwer über das Feld. Man kann nicht anders. Die Seele weint. Für jene hier und alle sinnlosen Tode der Gegenwart. Wir wissen wo. Aber dort gibt es kein Memorial... da gibt es nur Schweigen, Verscharren.... im Sand. Und wir lassen es zu!
Meine Fahrt geht weiter. Die Antipode des Lebens.... herausfordernd. Man muss es lernen. Die Trauer versus die Freude. Sie sind beide da. Sie müssen da sein.
Schliesslich ist es Elsa, die mich zum Lächeln bringt. Luxembourg und Wein. Das hat für mich nicht zusammengehört, aber ich lerne, dass trockene und mineralisch würzige Weine gekeltert werden. An den Abhängen des Miselegebietes produziert Bernard-Massard Crémant von bester Güte.
Über 100000 Flaschen werde hier täglich maschinell bewegt, die Flaschenhälse dem Kühlagregat zugeführt, auf dass nach der Entfernung des Deckels der Flaschendruck mit 6 Bar Druck den eisigen Bolzen samt der inkludierten Hefe herauskatapultiere. Das tönt alles technisch, aber man ist hier stolz. Die Lese erfolge nur von Hand. Traditionell eben.
Elsa präsentiert die Flasche mit dem Luxembougischen Löwen. Prickelnd. Belebend. Ein formidabler Abschluss dieser Stippvisite. Sie war zu kurz.
Ich komme wieder.
Die Stewardess nimmt meine Boardkarte. Ich habe die Menschen, den Dialekt liebgewonnen. Nochmals Lëtzeburgisch: „Ich wüsche en agreable vol.“
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