Golden glänzt das Zifferblatt auf den rottonigen schweren Steinquadern. Fünfundzwanzig vor sechs; die Dämmerung hat mit Indigoblau das Himmelszelt erobert.
Schwarz recken sich seine zwei eleganten gotischen Türme in das Sombre. Stolz? Ja stolz... das Basler Münster feiert 2019 seinen 1000. Geburtstag.
Ich bin nicht allein. Auf dem Münsterplatz herrscht emsiges Treiben. Alle warten auf dem Beginn der Museumsnacht. Das Ticket für CHF 22.50 habe ich bereits erstanden. Bald kann es losgehen, und ich werde die Qual der Wahl haben. 36 Museen bis 2 Uhr morgens. Grosse Pläne habe ich noch nicht..... treiben lassen. Gerade jetzt öffnet sich die Pforte der Kirche. Gotische Bauten ziehen mich immer wieder an. Und jetzt bei Dunkelheit noch mehr. Nur das zurückhaltende Licht der Deckenleuchter scheint durch die Glasfenster.
Unversehens finde ich mich unter den aufstrebenden Spitzbogen im Innern, erhasche mit viel Glück noch einen der letzten Stühle. Innert Minuten sind alle Plätze besetzt. Gedämpfes Geplauder, bis der raumfüllende Klang der Glocken die Stunde kündet. Die Töne schlagen sich an das Gemäuer.... werden zurückgeworfen... verhallen. Es ist mucksmäuschen still.
1000 Jahre.... 1000 Jahre. Für einige Sekunden scheint diese ganze Geschichte im Raum präsent... erahnbar. Klein bin ich... wie endlos klein.
Die Rednerin tritt ans Pult. Einen Segen wolle sie sprechen. „Segen“ heisse übersetzt: „Das Wort, das dem Menschen gut tut.“ Ihn schützt. Früher immer auch vor dem Schlafengehen gesprochen. Zur Abwehr all dessen, was uns im Schlaf begegnen könnte. Die Hoffnung spendend, uns wieder unversehrt am Morgen aus dieser Zwischenwelt holen zu können. Wo sind wir... wer sind wir im Schlaf? Dieser Zeit, die unserer Erinnerung entrissen ist. Keine Antwort, aber der Segen schenkt uns das Vertrauen, sich in den Schlaf fallen zu lassen, uns der Nacht zu stellen. In diesem Sinne, ein Segen für unsere gemeinsame Baslernacht.
Die jungen Mädchen der Basler Kantorei haben sich inzwischen aufgestellt.
Das Lied aus 1648 schwebt auf ihren feinen, zarten Stimmen.
Nun ruhen alle Wälder,
Vieh, Menschen, Städt´ und Felder,
Es schläft die ganze Welt;
Ihr aber, meine Sinnen,
Auf, auf, ihr sollt beginnen,
...
Und damit: „Auf in die Nacht der Musen und Sinne!“ Die letzten Akorde verklingen.... eine Horde von fröhlichen Jünglingen stürmt aus allen Richtungen durch die Gänge.... der Knabenchor. Jungs, alle in roten Pullovern, überraschen das Publikum. Nichts von braven Sängerknaben... es geht mit viel Move ab und der Sound lässt fast die Münstersäulen biegen. Hundert weissbehandschuhte Hände wirbeln. Es reisst uns fast von den Sitzen!
Ohh Münster... wie musst Du dich fühlen? Diese jungen Leute... diese Engergie und Freude... Das „omnia mutantur“ lebt und macht Lust auf Zukunft.
Beschwingt und unternehmungslustig verlasse ich die Gotik. Draussen stehen die diversen Shuttlebusse bereit. Linie „Orange“ ist gerade startbereit und ich quetsche mich noch schnell hinein. Ich „lande“ bei der alten Papiermühle am Rhein.
Das Mühlerad dreht seine Runden. Der Bach rauscht in der Finsternis. Über ein kleines Brücklein betrete ich das private Museum zur Geschichte des Papiers und der Schrift. Hier wird schon fleissig Papier geschöpft. Kinder drängen sich um die Erklärenden. Jeder möchte mal den Rahmen mit dem engmaschigen Gitter in der Brühe schwenken und das selbstgeschöpfte Papier nachher an der Trockenleine aufhängen.
Im kleinen Nebenraum geschieht Kurioses. Hier werden Pastanudeln von Hand hergestellt und zwar werden die Teiglappen mit einer Textplatte aus Tintenfischfarbe bedruckt.
Das gibt beschriftete Nudeln (erhältlich auch im Musumsshop). und essen darf ich sie im ehemaligen Lumpenkeller (Papier wurde aus Alttextilien gefertigt) mit Olivenöl und Gewürzen.
Frisch gestärkt erklimme ich den Dachstock, wo ich mich auf das Schattentheater freue. Die einzige Enttäuschung des Abends. In einem Raum werden viel zuviele Leute in einen Raum gepfercht, Fluchtwege sehe ich keine und das in dem verwinkelten engen Haus. Die Leinwand ist so klein, dass die meisten nichts sehen und die Handlung langweilig. Gab es überhaupt eine? Deshalb tue ich es den rund anderen 15 Personen gleich und verlasse den Salon obscuro, um mich nachher mit der Scherenschnittkünstlerin Elisabeth Bottesi umso interessanter zu unterhalten.
Sie hat die Technik weiter entwickelt und ergänzt die Bilder mit farbigen Elementen, die den Werken eine 3-Dimensionalität verleihen.
Noch einen kurzen Blick in die Druckerei, wo sich Experimentierfreudige an den Bleisetzkästen versuchen.
Der uralte Typograph erhält noch meine Bewunderung... hui das Gestänge... jedes führte zu einem Buchstaben... eine Dinosaurier Schreibmaschine.
Und was geschrieben... landet auch heute noch oft im Briefkasten. Wie herrlich dieser Blaue: „Tschau Baslertiiibli, ich muss weiter.“
Per Linie Orange gelange ich wieder zum Münsterplatz, wo ich zur attraktiven Tour „Rot“ wechseln möchte. Vergiss es.... gefühlte 100 Personen warten schon auf den nächsten Ritt. Also herumgeäugt.... was leuchtet da so wunderpink & blau?
Das Museum der Kulturen lockt mit spärischer Farbe. Im Hof brutzelt und dämpft es. Für Speis und Trank ist, wie an vielen Orten, gesorgt. Ich betrete die recht moderne Lokation. Da ist gerade der cellestrischer Vortrag zu Ende gegangen und im Treppenhaus rollt mir eine Woge von Besuchern entgegen. Geistesgegenwärtig biege ich rechts ab. Heureka... ein Lift. Er kommt.. ich werde durch Nachdrängler hineingeschoben und erfahre hier zwischen einem Rollstuhl und einem Retrokinderwagen mein zweites klaustrophobisches Erlebnis, welches unter meinem, für dieses Museum durchaus themengerechten Plüschleopardenmantel, erhebliche Hitzewallungen hervorruft. Ich rette mich in die Ausstellung „Strohgold“ mit Wänden aus leider leeren PET-Flaschen... mein Flüssigkeitsbedarf ist rasant angestiegen. Die rein theoretisch abgehandelte Transformation von Gegnständen im Leben der Kulturen trifft meine der Dehydration nahen Situation nicht schlecht.
Bevor ich zu Mumie Ötzi, vertrockne....schnell via das neun Meter hohe Kulthaus aus Papua Neuguinea wieder per pedes hinunter, wo ich einen rettenden Apfel-Shorle erwerben kann. Langsam beginnen die flüssigen Pektine mich wiederzubeleben. Als nächstes nur nicht warm, bitte. Da ist der Ausstellungstitel des Antiken Museums vielversprechend: „NACKT! Die Kunst der Blösse.“
In der Skulpturenhalle geht es denn auch nahezu hüllenlos zu. Der Referent nähert sich humorvoll der auch damals delikaten Frage, wieviel Haut es denn sein dürfe. Wieso sind die Statuen fast alle füdliblutt?
Es hing vornehmlich mit dem Status oder gewissen Situationen zusammen. Götter, Kinder, Krieger und Menschen beim Bad oder Körperpflege waren als Nackedei geduldet. Sonst aber war diese Abbildung tabu. Die Künstler gaben sich allerdings kreativ. So wurde sozusagen eine erste antike Teilnehmerin eines Wet-T-Shirt-Wettbewerbes entdeckt. Das Kleid wird als nass angedeutet und befördert so die Fantasie.
Bei einer Fruchbarkeitsgöttin wiederum geht der Betrachter fehl, wenn er ein polybrüstiges Kleid vermutet. Es sind in Wahrheit umbebundene Stierhoden (der Restaurator des Antiken Museums hat dies selber im Schlachthof verifiziert).
Und nun noch zum Modelathlet. Alle Körpermasse waren klar definiert. Der Kopf ein Zehntel der Körpergrösse. und das beste Stück des Mannes hatte im Ruhezustand die exakt gleiche Länge zu haben wie die Nase.
Nach diesen amüsanten Ausführungen komme ich schliesslich noch zur wohlverdieten Betrachtung am lebenden Objekt.
Ein janusköpfiger römischer Krieger hat sich heimlich still und leise in einer schwarzen Ecke aufgestellt. Ganz in Gold und vollkommen bewegungslos geniesst er die Blicke. Plötzlich lässt er den Bizeps leicht zucken...atmet ein.... wouwwww das Sixpäck!!!!
Als Dessert lässt er seine Kräfte fast mühelos an der Akrobatikstange wirken. Das Publikum ist begeistert. Mit ruhigem Blick geniesst er seinen Applaus...eine Verbeugung in Zeitlupe... und der römische Adonis entschwindet... sein Januskopf grinst uns ein letztes „Salve“.
Zeit, noch ein weiteres Erlebnis anzusteuern. Der Renner heute Abend, das Cartoonmuseum. Ich habe nur 10 Min. Wartezeit im Durchzug des Einlasses. Maloney und Co. werden lebendig. Tiefschwarzer Humor prangt von den Wänden. Leider einfach zu voll hier. Man kann nicht verweilen und die Texte lesen... die Zeichnungen betrachten. Ein kurzes Stelldichein muss genügen. Lieber ein anderes Mal. Sehenswert!
Langsam spüre ich Blei in den Füssen. 22.30 Uhr. Aus dem Kreuzgang des Münsters klingt Irischer Folk.
Die Atmosphäre à la „im Namen der Rose“. Mein Rundgang endet, wie er begonnen hat: In den Gemäuern der 1000-Jährigen!
Ja... Du Münster... Dein Basel hat Fantastisches zu bieten. Und gerade jetzt beschliesse ich, meine Entdeckungen am andern Tag fortzusetzen.
Muse der Nacht
Muse des Lichts
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Herbert (Sonntag, 20 Januar 2019 22:18)
Spannend zu lesen... ein Genuss, deine Texte, Kommentare... umso mehr... die Quelle ist für mich ein ganz besonderer Mensch... eine Bereicherung, dich zu kennen...
Laurent (Montag, 21 Januar 2019 08:42)
Richtig toll wie Du schreibst!
Als Basler war ich natürlich extrem gespannt auf diese Zeilen!
Du hast mich wie fast immer gefesselt mit Deinen Berichten und Bildern!
Renata de la casa (Montag, 21 Januar 2019 13:44)
Mal was anderes, ziehts dich mal nicht in die Ferne oder an ein hotel pre opening.
Basel ist immer, zu jeder Jahreszeit, mehr als eine 'Eintages'-Reise wert. Tiefgründig und doch kurzweilig berichtet, merci.
Albert Müller (Montag, 21 Januar 2019 15:15)
Herrlich dein Basler-Münster-Erlebnis - bei "Pektine" musste ich den Duden zu Hilfe nehmen und der Modeathlet scheint eine Gallen-Blase-Entzündung zu haben...aber herrlich deine farbigen Bilder und daher DANK und weiter so!