Ibeth fixiert mich mit ihren Augen.... „Ja, Du...woher bist Du? Ahh Switzerland.... komm näher! Noch näher!! Ich bin aus Puerto Rico, und da steht man sehr nahe zueinander.... nicht wie hier, in New York, wo die Wohlfühl-Distanz zum Gegenüber aus Sicherheitsgründen gerne einen Meter betragen darf.“ Ich rücke heran. Die andern Teilnehmer der Memorial-Walking-Tour auf Ground 0 auch. Ibeth erhebt ihre kräftige Stimme:
„Genau hier.... genau hiiiiiieeer...my friends, stand ich am 9/11. Ich war erst seit 6 Wochen in New York, kannte mich nicht aus und hatte endlich einen Job gefunden. Es war mein erster Arbeitstag im Büro, das ich verzweifelt gesucht hatte. Und endlich kam ich bei der richtigen U-Bahnstation Downtown heraus; ich war erleichtert. Der Morgen war dunkelblau....alles wunderbar.... ich lächelte. Ich tat einen tiefen Atemzug.... dann, oben auf der Strasse, realisierte ich die andern Menschen. Sie standen wie angewurzelt... schauten in die gleiche Richtung... Ich, dachte es sei eine Strassenvorstellung, ein Flashmob, sah aber nichts. Niemand sprach.“
Ibeth fixiert meinen Blick... kommt noch näher... ihre Stimme, ist abgehackt, schnell ja fast atemlos, zitternd; sie flüstert:
“Niemand sprach,
kein Laut...
begreifst Du, Switzerland?
(sie nennt jeden Teilnehmer nach seinem Herkunftsland)
Jetzt schreit sie:“
„kein Wort!“
Isbeths Blick wandert wild umher...
„niemand sprach, niiiiiiiemand!!!!
Da tippte ich meinen Nachbarn fragend an:
Er würgte hervor: „Ein Flugzeug ... im Turm.... ein grosses!“
Ibeths Augen rollen... focussieren mich... als würde sie mich einsaugen wollen, damit ich mental bei ihr bin.... an diesem verhängnisvollen Morgen. Damit ich verstehe: Ibeth ist nicht irgendeine
Stadtführerin.... sie war dabei. Sie fragt, jeden von uns, wo wir an diesem Morgen waren. Jeder weiss es.
Ibeth erzählt weiter. Sie nimmt mich hinein in Ihr Erlebtes.
Ich renne mit Ibeth;
ich halte mir den Ärmel vor den Mund, weil sie meinen Blick gefangen hat. Ich muss sie anschauen.... anschauen. Ich muss mit ihr die toxische, russige Luft einatmen, die nach verschmortem
Plastik und unerträglich nach verbranntem Leben stinkt. Es gibt kein Ausweichen. Das lässt sie, Ibeth, nicht zu. Sie will mich.... mich da unten bevor der erste Turm einstürzt.
„Und dann, Switzerland...... war Stille, die ich nie mehr vergesse. Du stehst mit gut 2 Millonen Menschen in den Strassen und Du hörst nichts..... niiiiiiichts. Keinen Schritt, kein Atmen!“
Ibeth weint nicht; sie erzählt ihre Geschichte jeden Tag. Aber wir, ich, unsere Augen....und Ibeth hat noch viele Details bereit.
Aber dann.... wie aus dem Nichts .... strahlt sie..... ein breites Lachen: „Aber my friends: Wir lassen uns nicht niedrig machen. Du, Switzerland, ihr Australia, Germany, New Jersey..... kehrt Euch um. Vor uns erhebt sich wie Phoenix aus der Asche die riesige Taube. Ich betrachte das Gebäude fasziniert; es muss Calatrava sein. Es ist Calatrava. Das Sinnbild des Aufstehens. Von unten eine Friedenstaube symbolisierend, aus der Luft aber als „Auge“ zu erkennen. Der Name: Oculus (lat. das Auge).
„Folgt mir. Ich werde Euch durch die Zone des „Nie Vergessens“ führen.
Das Innere des Oculus kühlt unsere Wunden des Miterlebens. Weiss, weiss.... kathedralenartig..... luftig. Ein riesiger ovaler Platz. Die Menschen strömem, strömen unablässig, wie Ameisen über diese Fläche.
Sie kommen aus der U-Bahn oder wollen dahin. Nur wenige treten aus den, im Oval angeordneten, Geschäften.
Danauch geht es wieder nach draussen. Die 400 gepflanzten Eichen haben erst vor wenigen Tagen ihr zartes Grün erweckt. Welch ein Kontrast zu den beiden Brunnen, welche die Fläche der beiden eingestürzten Tower markieren.
Das Wasser fällt als glitzernder Silbervorhang über schwarz-russige Wände herunter, um in ein Infinitum zu entschwinden. Bewusst. Der Schmerz ist infinit. Endlos.
An der Brüstung sind die Namen der Opfer eingraviert. Nicht alphabetisch, sondern in der mutmasslichen Nähe ihrer letzten Sekunden. Bürokollegen, Flugpassgiere.
Bei gewissen Namen steckt eine weisse Rose. Geburtstag! 24 Stunden dürfen die Angehörigen diese platzieren.
Ibeths Stimme wird wieder laut. „Friends.... wir wissen nicht, wieviele Opfer es sind. Alle, die während Monaten dem giftigen Rauch ausgesetzt waren. Sie haben hier keine Gravur, keinen Namen.“
Ich werfe die Frage ein, ob die Gedenkanlage auch einen globalen Horizont habe. „Oh ja.... wir sind solidarisch zu andern betroffenen Ländern. Wir läuten nach Anschlägen die Glocke der benachbarten Kirche. Wir schicken Samen, der einzigen Eiche, die den Anschlag überlebt hat, um Hoffnung zu geben.
Mir kommt der Gedanke: „Ist das alles?“
Nun konzentrieren wir uns auf den Baufortschritt. Man sei noch lange nicht fertig. Für einen der geplanten Türme habe man noch keinen Ankermieter gefunden, dafür sei der Wintergarten mit Shoppngcenter und Restaurantmeile bereits in Betrieb.
Ibeth entlässt uns vor dem Gedenkmuseum. Jeder kann da seinen persönlichen Rundgang machen.
Sie umarmt jeden einzelnen von uns zum Abschied. „Wenn ich etwas gelernt habe“. sagt sie leise: „Verabschiede Dich immer sorgsam.
„You never know!!!“
Danke Isbeth.
Das Museum ist Privatsache. Ich kann nur sagen, museumsdidaktisch und emotional die perfekte Installation. Trauer und Heroisierung finden hier den visuellen Schulterschluss. Ich verlasse es voller Gedanken und tauche in den Wintergarten.
Ich betrachte den hochpolierten Marmorboden. Auch hier ist es voll von Menschen. Aber mich beschleicht das gleiche Gefühl, wie im Oculus.
Trotz Geschäftigkeit: Es lebt hier nicht. Kein Kinderlachen, kein „das ist für alle“.
Der Türsteher mir der schwarz-ölig-glänzenden, nach hinten gelierten Frisur, dem Antrazyth-Rohseidenanzug. Er mustert mich hinter seiner Spiegelsonnenbrille edelster Marke. Ob ich wohl das nötige Kleingeld hätte. Sein Kinn geht nach oben, sein Kopf dreht sich...ich habe das verstanden, mein Turmschuh ist no-name... meine Haare von gestern. Ich will ja auch nichts.
Mit einen Schlag kann ich mein Unbehagen einordnen. In Ground Zero können die wenigsten der Hinterbliebenen, der Retter, der hautnah Involvierten, sich etwas kaufen oder etwas tun, das ihren Alltag betrifft. Diese Schicki-Micki-Läden an diesem Ort. All das Geld, das hier, im Zeichen des verletzten Stolzes, sich auf diesem Gelände manifestiert. Geld das fehlt, um jene zu retten, die weltweit unter Kriegen und Elend leiden und die keinen Namen haben und kein Memorial. 9/11 ist jeder Tag, aber eben verdrängt. Nirgends ist irgend hier eine Aktivität, wo wir Besucher, aller Länder uns mitteilen könnten. Vielleicht ein Knopf; man drückt ihn und es entsteht eine grosse, stetig wachsende Projektion; jeder Druck ein Licht unter dem Spruch: No Terror, No War.“ Oder etwas ähnliches.
1.15 Uhr. In meinem Tourbillet ist die Fahrt auf das Observatorium einbegriffen. Durch den nochmals emotionalen Eingang. Feuerwehrleute erzählen.
In wenigen Sekunden auf Etage 102 katapultiert. Die Aussicht ist überwältigend.
Ich sehe Horizont.... Weite...
Hier oben stehe ich. 8. Mai.... Ende des 2. Weltkrieges.
Ich wünsche uns Weitsicht, damit alle Menschen Horizonte haben dürfen.
Kommentar schreiben
Dorte (Sonntag, 12 Mai 2019 20:59)
Ach wie traurig, dass der Mensch meint, mit Geld kann man alle Sorgen wegräumen. Mit ehrlicher Menschlichkeit und weniger Egoismus wären wir besser dran. Danke für deine eindrückliche Schilderung. Bis bald.
Hansueli Märki (Montag, 13 Mai 2019 16:20)
Ein wirklich eindrückliches Museum. War schon dreimal drin und habe fast alles gesehen. Der Bahnhof ist mit seinen Milliarden Kosten der teuerst Bahnhof auf dem Globus. Aber gut gemacht von unserem ehemaligen Nachbarn in Hottingen, dem stolzen Calatrava. Auch sonst hat sich die Gegend fort unten schön rausgeputzt, bis zum Irischen Hungerdenkmal am Hudson River alles neu und gut gemacht.
Wolfgang (Montag, 13 Mai 2019 20:58)
Seh, sehr beeindruckend was die in den letzten Jahren gemacht haben. Ich war schon lange nicht mehr in NY.
Peace for the future......
Werner Weber (Dienstag, 14 Mai 2019 18:11)
An diesem späten Nachmittag war ich in der Westscheiz auf Kundenbesuch. Obwohl der Inhaber der Firma keine Störung wollte, kam seine Sekretärin mit der Botschaft, dass der amerikanische Vertreter nun schon zum drtten Mal angerufen habe und sich nicht mehr abwimmeln lasse. Das Ferngespräch, das nun folgte, lies uns erahnen was passiert war.
Im Verlaufe des weiteren Gespräches mit mir, krempelte er unvermittelt einen Hemdsärmel hoch und zeigte mir seine eingätzte Nummer aus seiner Zeit in Buchenwald.
Cornelia (Mittwoch, 15 Mai 2019 10:23)
Danke, Franziska, für deinen lebhaften Reisebericht. Er bewegt und macht nachdenklich.
Muss jetzt erst einmal meine Gedanken wieder sortieren...
Wünsch dir einen schönen Tag!