Henry schaut unsere Gruppe eindringlich an... sehr eindringlich:
„Ladies ... und Gentlemen!!!!“ Er macht eine Kunstpause bevor er fortfährt.
Noch prägnanter: „Bitte... nie bei einer Strassenüberquerung stehenbleiben... und..... noch wichtiger: Überhaupt nie auch nur einen Schritt zurück!!!“ Haben Sie das verstanden?“
Ich war schon gewarnt worden. Der Verkehr in Vietnam führt punkto Unfällen die Weltliste regelmässig mit Spitzenplätzen an. Nun schaue ich aus dem Bus in Saigon. Aber meine Vorstellungskraft kam bei Weitem nicht an das heran, was ich nun sehe.
Motorräder, Motorräder.
Helme in allen Farben. In Hundertschaften stehen sie in Pulks vor den Kreuzungen um, wenn die Ampel wechselt, ohrenbetäubend anzufahren.
Faszinierend mit welcher Grazie manche Beifahrerinnen die Sozia geben.
Flatternde Mähnen im Fahrtwind fliegen lassen.
Kleine Kinder hinter das Lenkrad gequetscht werden.
Alles scheint sich auf dem Moped abzuspielen:
Transporte so schwer, dass sich die Auspuffrohre biegen.
Oder es wird schlicht das Leben (natürlich digital) organisiert
Aber nach welchen Regeln?
Also im Strassenverkehr gibt es praktisch keine Vorschriften, klärt Henry mit süffisantem Lächeln auf. „Ja super“, fährt es mir durch den Kopf. Henry liest unsere Mienen und fährt fast etwas geniesserisch fort.
„8 Millionen Räder knattern pro Tag durch Saigon.
Ampel ? Ja... da und dort. Sie gelten aber mehr als Empfehlung. Ich würde mich nicht darauf verlassen. Am besten Sie hängen sich an einen Einheimischen, meiden jeden Blickkontakt zu den Moto-und Autofahrern und gehen immer im gleichen Tempo los. Ignorieren sie den Verkehr.“
Also mit 30 Fussgängeropfern müsse man landesweit pro Tag schon rechnen. Aber grosso modo seien die Fahrer geschickt und umschwenkten die Fussläufigen.
Mein innerer Beschluss ist gefasst.
Ich bleibe auf jener Seite, auf der ich gerade bin. Da schiebt Henry nach: „Ähh ja und noch etwas: Auf dem Trottoir sind die Mofafahrer auch. Sie wissen ja, keine Verkehrsregeln... Hi hi!!“
Meine strassentechnische Abstinzenz muss natürlich im Reich der Theorie verbleiben. Um zum Hotel Majestique zu gelangen, der hotelarischen Stilikone mit Historie und gradioser Aussicht (von der Rootopbar), hätte ich doch nur auf diesem Gehsteig bleiben müssen.
Aber oh weh... es kreuzen kleine Seitengassen, und da braust und quitscht es auch!
In einer gepflegten Konditorei à la Sprüngli fahre ich mit Capuccino meinen Mut und meinen Blutdruck hoch.
Ich muss wach sein... total wach.
Dann geht es los.
Ich stelle mich zur Eingewöhnung an der Gehwegkante auf.
Ich kann das.
Ganz selbstbewusst.
Einfach gehen.
Easy.
Ich möchte (also eigentlich nicht) gerade die Strasse betreten.
Von links WUSCH
Eine Grossmutter mit Enkelkind und Drittperson.
Von rechts WUSCH
Ein Esskurier mit Thermokiste.
Wieder links WUSCH
Ein Mädchen, mit Zauberrapunzelhaar
Jetzt eine Ahnung von Lücke.
Ich schalte meinen Tunnelblick ein. Fixiere die andere Seite. Schritt für Schritt. Plötzlich scheinen meine Sohlen am Aspalt zu kleben. Brummm... vorne
Brumm hinten...
auf meiner Hüfthöhe etabliert sich der Fahrtwind der vorbeizischenden Roller.
Der Slogan einer Schweizer Versichung blitzt durch meine Sinne.
Spätestens jetzt... genau jetzt möchten Sie versichert sein.“
Aber es gibt kein Zurück!
Ich muss... ich muss!
Noch 5 Meter
WUSCH
Noch 4 Meter
WUSCH. WUSCH.
Quitsch.
Noch 3 noch 2
... Wahnsinn es hat funktioniert.
Aber das Misstrauen bleibt. Zu recht. Das war nur der Anfang. Mit dem Führer „Cham“ in Hanoi wird es dann über richtig fette Avenues gehen. Vorausgesetzt Du hast das 30 cm tiefe Loch am Randstein, das dir einen todsicheren komplizierten Beinbruch prognostiziert, noch rechtzeitig in der Dunkelheit bemerkt, braucht es hier noch einen Zacken mehr Mut und mein Deodorant flirtet achselseitig mit der Wirkungsgrenze.
„Cham“ hat noch einen Tipp
Arme seitlich ausstrecken und mit den Fingern Auf- und Abbewegungen machen. Das heisst: „Hallo Verkehr, ich laufe jetzt einfach.“
Nach diesem Adrenalinstart:
Weiteres Hintergrundwissen über das Land tut Not. An den Schiffsvorträgen von Herrn E. auf der Silverseas lerne ich Hochinteressantes über den Move des Landes im Allgemeinen.
Ist das Land, das seine
Bevölkerung seit Ende des Krieges 1975 von 50 auf 100 Millionen verdoppelt hat, a rising Asian Tiger oder eine räudige Gassenkatze (so der Titel des Vortrages). Fakt ist: Das Volk will primär einfach unabhängig sein.
Auf der Hassliste steht als Nummer 1 China, welches das Volk 1000 !!! Jahre unterdrückte. Auch nicht auf der „Wir-mögen-uns“ Spur befinden sich die Franzosen mit 100 Jahren Präsenz. Relativ milde geht man mit den USA um. „Viele Amis wollten diesen Krieg nicht und heute beschützen sie uns. Geben Gegensteuer“, meinen viele Vietnamesen. Die Sorge gilt dem Norden: China hat begonnen, mit Dämmen am oberen Mekong den Vietnamesen das Wasser abzugraben. Dies führt dazu, dass es in der Monsunzeit im Delta keine Überschwemmungen mehr gibt, welche wie beim Nil das Land und die Flussarme mit Schlamm und Nährstoffen füttern. Die Kettenreaktion ist bereits eingetreten. Weniger Fisch und Reis. Die Spitzenexportartikel des Landes. Neben dem Öl (60%). Da haben natürlich alle ein Auge drauf. Auch Putin schmeichelt mit Waffenlieferungen, denn Vietnam muss seine Häfen und Gewässer im Chinesischem Meer verteidigen. Wer das Chinesische Meer kontrolliert, hat Power auf 70% des schiffbaren Welthandels.
Der gelbe Drache hat sich still und leise, ohne dass die andern Weltmächte proper reagiert hätten, künstliche Inseln im Meer erstellt, das man nun als Chinesisches Territorium proklamiert.
Herr E.: Ein immenser Fehler das zuzulassen! Der Chinese geht davon aus, dass man ihm Paroli bietet. Tut man das nicht, verliert man das Gesicht, den Respekt des Chinesen.
So hat Vietnams kommunistische Regierung auf einer veritablen Gratwanderung, die Krallen auszufahren und gleichzeitig Schmusekurs zu pflegen.
So, wie sich die Kräfteverhältnisse aktuell präsentieren, ist vom stolzem (Vietnam) Tiger in naher Zukunft wohl nicht auszugehen. Das Land dümpelt zusammen mit Kambotscha und Laos an drittletzter Stelle des BSP in der Region.
Ich habe viel Armut, Dreck und Unrat gesehen. Entlang des Mekong leben 17 Millionen Menschen in erbärmlichen Zuständen. Von den Postkartenbildern bekam ich wenig mit (Winter).
Es wird Aufgabe der nächsten Generation sein, sich in die beste Richtung zu bewegen. Aber sie muss gesellschaftlich Fahrt aufnehmen.
Unterdessen hat auch das Socialising an Board der Silverseas Tempo zugelegt. Eine Tanzparty unter den Sternen steht auf dem Programm. Während Kapitano Palmieri den Kreuzer Richtung Hallong Bay steuert, hält DJ Dean den Plattenteller in Schwung. Drei Generationen Kreuzfahrer beschwingen das Parkett. In Minis, roten Pailletten. Im Samba-move und Rock’n roll.
Am Morgen werde ich noch lange schlafen, um dann den topografischen Höhepunkt der Reise zu geniessen.
Hallong Bay.
Ein gestrandeter Drache soll seine schuppigen Zacken hier im Meer verteilt haben
Man hört, es lohne sich nicht mehr. Overtourismus.
Wir haben aber Glück an diesem Morgen.
In ihrem Momentum verweilend die einzigartigen Felsen.
Alle 500 Meter neue Optiken.
Felsig
Stoisch
Fantastisch.
Gelassen
Ruhend
Ganz ohne Move.
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Herbert (Mittwoch, 22 Januar 2020 22:56)
Vielen Dank für die Vespa-Invasions-Warnung... wie immer nach Francesca-Manier... spannend und unterhaltsam... aber umso mehr freue ich mich auf Vietnam...
irgendwann schreiben wir ein Buch zusammen...!
Werner Weber (Donnerstag, 23 Januar 2020 07:02)
Da sind wir mit unseren Verkehrsverhältnissen noch bestens bedient. Ja, die Motorräder. Mein Vater gründete 1935 das Geschäft Moto Weber Zug. Dort wo heute das Kino Seehof steht. Die Schmidgasse war damals und auch heute noch gut zu begehen. Liebe Franziska, hast du auf deinen Ausflügen allenfalls auch James Bond getroffen? Heb Sorg!!!
Rena de la casa (Donnerstag, 23 Januar 2020 09:10)
Schnell, witzig und spritzig - Francesca gibt Gas, überwindet Grenzen.
Danke für die kurzen Informationen zur Situation von Land und Leuten. Wohin führt dieser Weg?
Wolfgang Ruf und Ute Waldschmitt (Donnerstag, 23 Januar 2020 12:25)
Spannend!!....alles Liebe!
Albert Müller (Donnerstag, 23 Januar 2020 17:02)
Zwar herrliche Fotos, aber wahnsinnig diese Dichte - und 30 Tote pro Tag sind 30 zu viel…
DON PEDRO (Donnerstag, 23 Januar 2020 18:21)
Das mit den Mofas war schon vor 10 Jahren so. Nur hatte es noch x hundert Betonmischer! Das mit den wirtschaftlichen Aussagen teile ich nicht: Vietnam ist eines der am stärksten wachsenden Länder Asiens. Man investiert heute in Vietnam und Burma!