Ich bin gerade im Bett von James Blunt aufgewacht. Also so verkehrt ist das nicht. Ich behaupte ja nicht, dass er mit mir unter der Decke lag, aber das Bett, das Bett ist das gleiche. Zimmer 68, Schweizerhof Luzern. Er weilte 2010 in genau diesen Gemächern und dass er vor einer Dekade auch gerade sein neues Album: „Some kind of trouble“ veröffentlicht hatte, passt durchaus zur Aktualität.
Es ist der 12. Dezember. Alain und Co. haben tags zuvor ein Machtwort gesprochen. Restaurant Sperrstunde: 19.00 Uhr mit Ausnahme für Hotelgäste.
Ich brauche Tapetenwechsel. Da bietet sich das ehrwürdige Hotel Schweizerhof in Luzern für einen übernachtungsmässigen Augenschein der Situation an.
„Restaurant Galerie (im augenschmausigen Jugendstilsaal) leider ausgebucht, liess man mich schriftlich wissen.“ „Aha, also doch was los an diesem Abend. Dann eben das Pavillon.“
Bei meiner Ankunft hake ich usanzgemäss nochmals nach. Der Concierge Marke: „Inventar des Hauses“, altgedient, mustert mich über den Rand der Maske hinweg, um umgehend seinen Blick in einem Monitor zu versenken. „Galerie war eigentlich ausgebucht.... war.... Madame, murmelt er. „Sie können sich vorstellen.... Annullationen!!!“ Und mir kommt es vor, als träfe das ... „null“ im besagtem Wort den Rezeptionisten wie einen Dolchstoss. „On verra, ich werde sehen, Madame“, heisst übersetzt, es wird klappen.
Zeit, sich umzuschauen. Über dem Eingang gross mit Kunstrosen ausgeschmückt die Zahl 175.
Es ist das Jubiläumsjahr des Hotels und fast etwas trotzig prangt an der Fassade ein oranges Plakat: „Wo Luzern das Leben feiert.“
Hier wurde Lokalgeschichte geschrieben. Ein wunderbarer Bildband berichtet amüsant in Reminiszenzen über allerlei Stars, Berühmtheiten und Sternchen. Jedes Zimmer ist einer Celebrity gewidmet. So, das wäre eben mein Date mit James Blunt.
Die Welt gab sich hier ein Stelldichein. Kaiser Wilhelm legte 1893 mit dem Raddampfer am Pier an, um eskortiert von drei Bundesräten, in 45 Minuten ein 7-gängiges Menu abzuessen, bevor er samt Hofstaat weiterzog. Mark Twain wandelte über den schmucken Mosaikboden der Lobby und Adèle liess unter den Empirelüstern die Champagnerkorken knallen.
Um 19.15 bin ich ready für den Dinner-Auftritt. Neben dem bombastischen Weihnachtsbaum, wo sich noch bis vor Kurzem zahlreiche Leute an Clubtischen verlustiert hatten: Empty. Wer jetzt noch hier ist, hat eingecheckt.
Im Galerie, ja es sind noch mehrere Tische frei, haben geschätzt 20 Personen Platz genommen. Mit Abständen von 2-4 Metern zur nächsten Gruppe und angesichts der gut 6 Meter hohen Decke: Ich fühle mich extrem wohl.
Wären nicht die Masken der Servierenden, man könnte das grosse C mal kurz vergessen.
Das Amusebouche mit gespiessten Lammtranchen lässt Vorfreude aufkommen, die sich beim Saiblingfilet, das sich zartrosa auf Mandelrisotto bettet, realiter wird.
Ein perfekter Abend im festlich gedeckten Saal. Die Spezialität des Hauses, die berühmte Crèmeschnitte, gedenke ich in der Bar einzunehmen. Da werden sich die Gäste wohl nach dem Essen hinverschieben. Genau jetzt holt mich der Lockdown ein.
Die Bar, einer der Hotsports der Stadt, wo sich heute mindestens 200 festfreudige, adrette Menschen gedrängt hätten, ist praktisch leer. Der Barkeeper, ich nenne ihn mal „Jorge da Santos“, versucht, Normalität zu miemen. Er kann ein Hergöttli servieren, meine Schnitte, ein Espresso. Später erscheinen noch
„Dorian Grey und Ana“, sie im blütenweissen Superminikleid aus lurexierter Wolle, das ihre bronzefarbigen, makellosen Infinitybeine, die in hochetagierten, glitzernden Sandalen stecken, vortrefflich in Szene setzt.
An ihrem Tischchen in 20 Metern Entfernung von mir, werden für Jorge noch zwei Cocktails fällig, ansonsten räumt er alibimässig in seinen Unterschränken herum. Ab und zu Gläserklirren.
Es ist trostlos.... aber da ist in der rechten hinteren Ecke: „Rosenthal“, der Pianist am Flügel im leicht zu engen Komfirmantenanzug. Rosenthal heisst nicht so, aber für mich, für mich ist er „Rosenthal“. Sein Vater war hier schon Pianist und der ca. 30-ig jährige hat offenbar von der Geschäftsleitung eine klare Direktive erhalten: „Rosenthal: Nur keine Melancholie aufkommen lassen. Keine Pause zwischen den Stücken. Es wird keinen Applaus geben, in dem Du Dich sonnen könntest.“ Dieser Strategie - zumindest dem letzteren Teil davon - bin ich zu Dank verpflichtet, denn sonst müsste ich alle paar Minuten als Solo-Klatscherin in Aktion treten.
Rosenthal gibt Gas.
Im 7/8 Takt jagt er 100 Cowboymustangs über das knirschende Jahrhundertparkett „Down by the River“ und nahtlos daran erklimmen Albano und Romina Power mit „Felicità“ die pink illuminierten Säulen. „Rosenthal: Nur keine Pause... nur keine Pause!“
Ein lüpfiger Charleston wedelt zwischen den samtigschwarzen Barockstühlen und Udo Jürgens wiegelt mit „66 Jahren, da fängt das Leben an“, die frustrierende Lage ab,
was die an der Decke schwebenden, Hosianna singenden Goldengel, aber auch nicht daran hindert, einen zumindest optischen Sinkflug einzuleiten. Die Szenerie hat etwas von Titanic. Musik: „Spiel weiter.... weiter... immer weiter ... ununterbrochen weiter...fröhlich. Jetzt nur nicht: Gefühl.
Deshalb wird Rosenthal mein Wunsch nach: „Con te partitó“ nicht ganz ins Konzept passen. Weil dieses Lied Tiefe transportiert. Aber Rosenthal greift in die Tasten. In mir löst das Stück ein „ich möchte mehr davon“ aus, weg von der Verdrängung zum
authentischen Durchleben dieser Situation. Ich verkneife mir jedoch, Rosenthal das „Regresa a mi“ abzuverlangen. Dieses Lied, das wie keines, den Verlust zelebrieren kann. Auch wenn es von einer Person, die gegangen ist, erzählt; für uns ist es das alte Leben, das wir so sehr vermissen. In meinem Kopf spielt Rosenthal dennoch. Er spielt mit seiner Technik die singenden Violinen, die seidene Gitarre ein.
Ein imaginäres Paar betritt den Raum. Er hochgewachsen, die schwarzen Wellen nach hinten gekämmt, dunkler Anzug, Lackschuhe und sie im Stil einer Tangotänzerin. Das Haar im Nacken streng geknotet, in schimmernder zyklamroter Robe, die ihren Rücken im tiefsten V freigibt. In einer freien Improvisation durchleiden sie diese Minuten, geben dieser bizzarren Situation Gemüt.
Sie durchschreiten, drehen, wiegen. Ihr Spiel mit dem Vermissen, der Nähe, dem nicht loslassen wollen, dem wieder sich Entwinden. So wie es diese Zeiten jetzt mit uns machen. Das Lied spricht vom Longing nach der „Pasion de tus maso“. Der Leidenschaft des Körpers. Ach ja... wie vermissen wir diese körperliche Nähe, das Berühren. Die Töne verklingen, das Paar entgleitet meinen Gedanken.
„Komm“, denke ich für mich: „Rosenthal... spiel es jetzt als letztes Stück, als Zeichen der Hoffnung.
„Our hearts will go on“ (Titanic).
Aber Rosenthal erhört mich nicht:
Joe Dassin. Er wählt : „Aux Champs-Elysees“. Der locker flockige Ohrwurm, der diesen Menschen gut tun möge, die das jetzt so brauchen.
Ich habe mein „Regresa a mi“ , diese Sehnsucht nach dem, was vorher war, in meiner Fantasie, in meiner Tiefe hier durchlebt. Die Emotion zugelassen.
Der Raum ist nicht mehr leer.
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Georges (Montag, 14 Dezember 2020 19:06)
Es ist so geschrieben, als wäre ich auch vor Ort. Die Lokalitäten sind mit imaginären Menschen besetzt.
Echt gelungen.
Albert Müller (Dienstag, 15 Dezember 2020 17:26)
Magische Fotos von LUZERN - als Gersauer habe ich das damalige Städtchen nicht so in Erinnerung - eine frohe Weihnachtszeit
Rena de la casa (Dienstag, 15 Dezember 2020 18:59)
Endlich schwebt Francesca wieder mal in Gedanken hoch hinaus, so nah, die Eindrücke wahrlich zum Greifen nah!
¡Muchas gracias!
Dorte (Dienstag, 15 Dezember 2020 22:00)
Du weiss schon wie das Beste aus der Situation zu holen und das Leben zu geniessen�� Denn das Gute liegt so nah �
Thea (Sonntag, 20 Dezember 2020 23:43)
Frohe Festtage und herzlichen Dank für die Reportage Deines Besuchs im Hotel Schweizerhof, viele schöne Erinnerungen werden wach
Irmgard Scheidel (Dienstag, 22 Dezember 2020 12:26)
Franziska, dein Blog ist wieder super. Obwohl ich erst letzten Monat im Schweizerhof war, wecken deine Bilder und Kommentare Lust, den Schweizerhof Luzern möglichst bald wieder zu besuchen und sogar "mit anderen" zu betrachten und zu geniessen.
Ich freue mich schon sehr auf deine Beiträge im Neuen Jahr.
Alles, alles Gute!
Irmgard (Dienstag, 22 Dezember 2020 12:28)
..."mit anderen Augen" natürlich...
Michel Planson (Freitag, 01 Januar 2021 16:22)
Super!
Merci Francezca���LG