Wissi Luscht

Ich sehne nach der Sünde. In diesen Zeiten des unfreiwilligen Puritanismus: Nach der ultimativen Sünde. Welches Freudeli ist uns denn noch geblieben?


Es gibt sie. Sie, an die ich höchstens einmal im Jahr zu denken wage. Ich verstecke deshalb verstohlen meinen Kopf hinter dem bildlich bereits anzüglich in Szene gesetzten Angebot, schiebe die  Karte in schwarzer-goldener Lederprägung noch etwas höher, so man mein gschämiges Erröten nicht bemerken möge.

Die Reise hat mich an einen Ort geführt, wo die Unschuld mit geflochtenem Zopf gleich mit einem Milchbeckeli und einen Wiesenstrauss um die Ecke hüpfen möchte. Ein „Vrenely ab em Guggisberg“ Flecklein. Der Ort der Begehrlichkeit liegt nicht an einer Hauptroute, was auf der Hand liegt. Die Sünde zieht es eben immer irgendwie ins Beyond. Nach etlichen navigationstechnischen Fehlversuchen kann ich ihn, den Sehnsuchtspunkt, schliesslich nahe Schrattenfluh lokalisieren.

Ich, urbanes Kind, habe mich ins voralpenhüglige Nirwana verirrt.


Kemmeribodenbad.

Es ist der Tag des grossen Flockdown. Züri versinkt. Hier hinten Ruhe. Zaubrig legt sich der weisse Flaum um jedes kleinste Ästlein. Die Tannen koketieren in wintrigen Tütüs. 

Die Felswände kleiden sich mit eisigen Orgelflöten 

und erstarrten Curtains. 

Der junge Fluss füttert keine Farben.  

Ziert sich mit fragilen Spitzen. 

Der Schibengütsch hat sich ein Puderzuckercape umgeworfen und erhebt seinen Gupf neugierig über die Nebelschwaden.


„Wiukomm im Ämmitau“

„Willkommen im Emmental“

Das Kämmeribodenbad am Fusse des Hohgant ist ein Ort mit Geschichte. Bereits im 18. Jahrhundert wurden schwefelhaltige Quellen entdeckt. „Na dis na“ entwickelte sich eine lebhafte Bäder- und Kurkultur, die aber nicht bis in die Gegenwart weitergeführt wurde. Trotzdem ist hier der Platz, um die Seele baumeln zu lassen. In 6. Generation wird der Familienbetrieb mit Herzblut geführt. Sorgsam zusammengetragene Details. 

Geschichtliche, literarische und fotografische Augen- und Leseschmäuse an jeder Ecke. 

Heuer sind schwierige Zeiten. Aber sich runterziehen lassen war nie das Credo der Gastgeber-Familien Invernizzi / Gerber, deren Vorfahren enger mit der aktuellen Situation konfrontiert waren, als man denken möchte. Die Spanische Grippe raffte den Ur-Ur-Grossvater und beide Ur-Grossväter dahin. Die drei Witwen machten zusammen durch die Kriege weiter. 

Damals wie jetzt: Kopf hoch. Kreativ-solidarisch. Als Team zämestah.  Die Angestellten spenden ihr Trinkgeld. 


Und den Gästen möchte man eine Auszeit schenken. Ein paar Stunden:


Chummerlos“. 

Was für ein Wort! Eine Eigenkreation des Hotels? Wie auch immer. Es sagt alles, wonach wir uns sehnen.

Und somit zurück zu meiner sündigen Begehrlichkeit. Mein Moment ist gekommen. Tue ich es oder nicht. Nun, „vernünftig“ zu sein, wäre wie einen Fallschirmsprung zu buchen und nicht zu...schlimmer noch.... ich müsste zusehen wie andere....


Deshalb... mutig... Ja!

Ich kann es nicht mehr aufhalten.

Es wird geschehen. Meine Order steht. 


SIE  wird mich vereinnahmen und gleichzeitig werde ich mich hemmungslos an IHR vergnügen. 



Die Preparation ist angelaufen. Ich habe zu warten. 

Blick hinaus zu den Igluhäuschen . Übernachten könne man dort mit Bettflasche und Fondue à Deux.

Im Iglu
Im Iglu

Derweil lässt sich mein Date Zeit. Durchaus üblich bei Berühmheiten ihrer Art. Geboren 1939 in der benachbarten Bäckerei Stein, blickt sie auf eine schweizweite Karriere zurück. Das Kultgebäck, dessen Aufbewahrung sogar in einer begehbaren  Glas-Humidor-Kammer zelebriert wird. Die „Königin in Wiss“ mag es 26 Grad warm mit 20% Luftfeuchtigkeit.

Sie liebt den grossen Auftritt samt opulenter Robe. 

Vorhang hoch. Endlich, Ihr Debüt an meinem Tisch.


Eure Hoheit:  

Die „Kemmeriboden Merängge“

Wie SIE mit ihren üppigen Kurven spielt.

Süsses Kopfkino. 

Der aufgeschäumte Eischnee, der sein Unschulds-Weiss im Backofen verloren hat und in ein hauchiges Nude getauscht hat. 


Das Blanc de blanc der Liaison aus Zucker und Eiweiss garniert mit


Viu Nidle! Viel Rahm!

Blutt liegt SIE da, ihre Nacktheit gekonnt  lasziv mit der sämigen Sahne-Decke punktuell kaschierend.

Pardon, ist das zu weit hergeholt?

Immerhin... die Deutsche Sprache kann „Meringue“ nur mit einem ebenfalls französischen Wort übersetzen. 

BAISER = KUSS.

Ich wage eine erste zarte Berührung.

Das noch schüchterne Vorspiel einer glukosen Leidenschaft beginnt.


Der Löffel kämmt ein mikroskopisches Stück von der rahmigen Verlockung. Näher zum Munde ..... begegnet meinen Lippen.....näher.

Und enfin: 

Die Zunge verkostet vorsichtig, um ganz sicher zu gehen, dass die samtige Erwartung Wirklichkeit wird.


Jawohl:


„Chummerlose Sünd“

Der Löffel gebärdet sich fordernder. Senkrechtes Dringen.... tiefer .... tiefer

bis....ein leichter Widerstand. Ich befehle die ultima ratio... den finalen Druck.

Ein leises Knistern... die Falange bricht ein. In pulvrigen Möcklein outet sich die Zerbrechlichkeit. Zerstreut sich auf einem Rahmteppich wie Eisschollen in arktischer See.


In meinem Gaumen schmelzen diese süssen „îles flotantes“ untermalt von cremigem Accompagné. Himmel!!

Ich schaue links... ich schaue rechts. Ich muuuusss... einmal den Finger in die Chantilly des Vergnügens stecken. Niemand hat es gesehen.

Sinnlich herrlich. Ein Sekundenglück. Wenn der Finger....dans la Bouche. 


Mon Dieu!

Meine Anima ist aufgewärmt. Ich trete hinaus in den Lichtergarten. 

Märchenwelt aus Kunst und Leuchten. In den geschmiedeten Feuerkörben stieben die Funken des Feuers, verglühen in der Winternacht.

Chummerlos

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Kommentare: 10
  • #1

    Georges (Sonntag, 17 Januar 2021 18:39)

    Da ich persönlich keine Nidle (Rahm) essen darf, hatte ich wieder mal, zumindest sprachlich, das Vergnügen von eine Meringue zu geniessen...

  • #2

    Rena de la casa (Montag, 18 Januar 2021 10:25)

    Superbe!
    Einfach herrlich, wie du dich dieser sinnlich süssen Sünde (?!) näherst...
    Ein Spass zum Lesen, die Vorfreude auf das nächste 'baiser' ist gewiss, ob das winterlich einmalige Ambiente mithalten kann, wer weiss?
    Gracias, cara.

  • #3

    Albert Müller (Montag, 18 Januar 2021 11:11)

    Natur pur - Kemmeriboden Bad ist auch dem Gersauer bekannt und er freut sich an den herrlichen bäckerzünftigen Meränggen-Aufnahmen!

  • #4

    Oswald (Montag, 18 Januar 2021 12:29)

    Es ist eine besondere Beschreibung des besonderen Ortes mit den ebenfalls besonderen Verführungen. Vielen dank für die tolle Beschreibung von Örtlichkeit und Köstlichkeit. - Mein letzter Besuch liegt über fünf Jahre zurück, jedoch in bester Erinnerung...

  • #5

    Knist Maria (Montag, 18 Januar 2021 21:27)

    Wunderbare Naturbilder.
    Beim Anblick deines“Date“läuft einem das Wasser im Munde zusammen und Erinnerungen werden wach.�

  • #6

    Barbara Stiemerling (Dienstag, 19 Januar 2021 00:12)

    Liebe Franziska:
    Einmal mehr nimmst Du uns mit auf deine kurze Reise während des Lockdowns. Wir schwelgen mit. Tolle Winterlandschaft im Emmental und so eindrücklich geschildert über eine Gegend, die so nah ist, die ich jedoch noch nicht kenne.

  • #7

    Colette (Donnerstag, 21 Januar 2021 13:15)

    Herrlich verführerisch geschrieben liebe Franziska... Deine Stories lassen einen im Kopf verreisen und geniessen. Freue mich schon auf dein nächstes Abenteuer

  • #8

    Markus Winterholer (Donnerstag, 21 Januar 2021 18:46)

    Liebe Franziska, danke für den virtuellen Ausflug ins Emmental inklusive kalorienfreiem Genuss einer Merängge. Ich habe schon ernome Portionen davon gegessen, aber diese scheint mir alles zu übertreffen.

  • #9

    Thea (Freitag, 22 Januar 2021 11:35)

    Herrliche Winterlandschaft und NIDEL Schnee auf dem Teller, welch ein Genuss! Danke ,liebe Franziska

  • #10

    Wolfgang (Mittwoch, 24 Februar 2021 20:20)

    Vor ca. 3 Jahren hatte ich das Vergnügen, in diesem schönen Hotel Mittagessen zu dürfen. Aber an eine so verlockende Süßspeise habe ich damals leider nicht gedacht.
    Und ohne diese „Franziska-like“ beschriebene Detailanalyse hätte ich diese Köstlichkeit mit Sicherheit nicht so geniessen könnten, wie ich das jetzt könnte.
    Also, nichts wie noch mal hin.